Die Verfolgung Homosexueller hat im deutschen Sprachraum eine lange Tradition. Seit den Anfängen des Christentums sind Verfolgungen und Hinrichtungen von Männern überliefert, die der »Sodomie«, der »widernatürlichen Wollust«, der »Knabenschänderei« oder der »Unzucht wider der Natur« verdächtigt bzw. überführt worden waren. Die Verfolgungsintensität war zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen kommunalen und territorialen Hoheitsgebieten unterschiedlich.

1871 machte die Gründung des deutschen Kaiserreichs schließlich eine Vereinheitlichung der Gesetzgebung gegenüber Homosexuellen erforderlich. Fast wörtlich wurde dabei der neue § 175 des Reichstrafgesetzbuches aus dem alten § 143 des preußischen Strafgesetzbuch übernommen. In den verschiedenen Regionen des Reiches hatte der neue Paragraph unterschiedliche Konsequenzen: Bedeutete er in Preußen etwa wegen seines niedrigeren Mindeststrafmaßes eine gewisse Strafmilderung, brachte er für Bayern und Elsass-Lothringen nach Jahrzehnten der Straffreiheit eine neue Kriminalisierung und Verfolgung homosexueller Männer.

Kaiserreich
15. Mai 1871 Im Reichsstrafgesetzbuch wird der § 175 eingerichtet, der »widernatürliche Unzucht« zwischen Männern mit Gefängnis bestraft, »auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden«
13. Januar 1898 Erster Versuch einer Liberalisierung des § 175. August Bebel (SPD-Vorsitzender) begründet in einer Rede eine Petition des »Wissenschaftlich-humanitären Komitees«, das von Magnus Hirschfeld, Max Spohr, Franz Josef von Bülow und Eduard Ober 1897 mit dem Ziel der Abschaffung des Paragraphen gegründet worden war. Der Versuch scheitert
31. Mai 1905 Der Reichstag schmettert einen Antrag der Petitions-Kommission auf Streichung des § 175 ab
23. Januar 1908 Die Petitions-Kommission spricht sich nun für eine Verschärfung des § 175 aus
Weimarer Republik
26. Oktober 1921 Gustav Radbruch (SPD), Unterzeichner der Petition zur Streichung des § 175, wird Reichsjustizminister; sein Vorstoß, die »einfache Homosexualität« straffrei zu halten, wird von der Regierung nicht bearbeitet
15. Januar 1925 Wahl einer konservativen Regierung (Reichskanzler: Dr. Hans Luther); diese beschließt eine Verschärfung des § 175
22. Juni 1927 Der § 175 wird wieder etwas entschärft (4. Kabinett Marx)
16. Oktober 1929 Der Strafrechts-Ausschuss des Reichstages empfiehlt mit knapper Mehrheit eine Straffreiheit der »einfachen Homosexualität« unter Erwachsenen. Die Stimmengewinne der Nazis und die Krise der Weimarer Republik verhindern allerdings eine Umsetzung dieses Beschlusses
Nationalsozialismus
30. Januar 1933 Machtantritt der Nationalsozialisten
23. Februar 1933 Der Preußische Innenminister Hermann Göring (NSDAP) ordnet an, die Gaststätten zu schließen, »die den Kreisen, die der widernatürlichen Unzucht huldigen, als Verkehrslokale dienen«. Viele Schwulen- und Lesbenlokale werden geschlossen.
Februar/März 1933 Die ersten homosexuellen Männer werden in Konzentrationslager verschleppt. Die Nationalsozialisten verbieten die Organisationen der Schwulen und Lesben oder zwingen sie zur Selbstauflösung. Zeitschriften und Bücher werden verboten, Verlage geschlossen
26. April 1933 Göring gründet die Gestapo
6. Mai 1933 Das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wird von NS-Studenten gestürmt und verwüstet. SA-Uniformierte transportieren auf Lastwagen die Institutsbibliothek ab. Am 10. Mai 1933 werden die Bücher auf dem Berliner Opernplatz zusammen mit den Werken »undeutscher« Schriftsteller wie Bert Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Franz Kafka verbrannt
20. April 1934 Reichsführer-SS Heinrich Himmler übernimmt die Gestapo und besetzt wichtige Posten mit SS-Leuten: Reinhard Heydrich, Chef des SS-Geheimdienstes SD, wird unter Himmler »Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes«
30. Juni/1. Juli 1934 »Röhm-Putsch«. Bildung eines Sonderdezernats II 1S bei der Gestapo unter Josef Meisinger, u.a. zuständig für Homosexuellen-Fälle
24. Oktober 1934 Die Gestapo weist alle deutschen Polizeidienststellen an, eine »namentliche Liste sämtlicher Personen, die sich irgendwie homosexuell betätigt haben«, anzufertigen. Die fertigen Listen der erfassten Männer sollen beim Geheimen Staatspolizeiamt Berlin eingereicht werden
1. November 1934 Präzisierung der Anweisung vom 24. Oktober: »unter Voranstellung der politischen Organisationen«
Dezember 1934 Die »Baseler Nationalzeitung« meldet Razzien und Verhaftungen Homosexueller in Berlin
26. Juni 1935 In einer Änderung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wird auch die »kriminalpolitisch indizierte« freiwillige Kastration homosexueller Männer ermöglicht. Um Strafhaft und Konzentrationslager zu entgehen, sehen sich viele verurteilte Homosexuelle gezwungen, die »freiwillige« Kastration zu wählen. Ab 1942 werden in den Konzentrationslagern auch Zwangskastrationen »legalisiert«
28. Juni 1935 Der § 175 des Reichsstrafgesetzbuches wird drastisch verschärft. Der Paragraph bestrafte bisher »beischlafähnliche Handlungen«, d.h. Mund-, Schenkel- und Analverkehr. Wechselseitige Selbstbefriedigung oder einseitige Befriedigung – vor oder an einem Mann – war nicht strafbar. Dies änderten die Nazis. Sie ersetzten den Begriff »widernatürliche Unzucht« durch »Unzucht«, und sie meinten damit alles, was als »wollüstige Absicht des Täters« angesehen werden konnte: Ein Brief, ein Blick, ein Lächeln, die vertraut auf die Schulter gelegte Hand konnten nun als strafwürdig ausgelegt werden.

In § 175a wurden die schweren Fälle geregelt:
a) homosexueller Sexualverkehr unter Androhung von Gewalt
b) unter Ausnutzung von Dienst- und Arbeitsverhältnissen
c) »Verführung« von Jugendlichen unter 21 Jahren
d) männliche Prostitution

Die Verschärfung des § 175 bedeutete die totale Kriminalisierung männlicher Homosexualität. Die Verurteilungsziffern der Prozesse gehen darauf steil nach oben. Insgesamt werden in der NS-Zeit etwa 50.000 Urteile wegen »Unzucht« unter Männern gefällt
17. Juni 1935 Himmler wird Chef der deutschen Polizei; Heydrich wird Chef der Sicherheitspolizei, die Gestapo und Kriminalpolizei umfasst
10. Oktober 1936 Himmler richtet die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« ein. Ihre Aufgaben sind die »zentrale Erfassung« und »wirksame Bekämpfung« der beiden »Volksseuchen«
14. Dezember 1937 Erlass zur Vorbeugehaft durch die Polizei, der auch bei Homosexuellen angewandt werden kann. Die Vorbeugehaft bedeutete die Einlieferung in ein Konzentrationslager
Januar – Mai 1937 Homosexuelle werden von Himmler, Heydrich und Meisinger öffentlich als »Volksfeinde« und »Staatsfeinde« aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Beginn der heftigsten Phase der Verfolgung bis zum Kriegsbeginn 1939
1. September 1939 Beginn des Zweiten Weltkriegs. In den Jahren 1934 bis Ende 1939 werden fast 33.000 Männer wegen homosexueller Taten verurteilt, davon allein 24.500 zwischen 1937 und 1939. Es ist die intensivste Zeit der Homosexuellenverfolgung in Deutschland
12. Juli 1940 Himmler ordnet an: Alle nach § 175 verurteilten Homosexuellen, »die mehr als einen Partner verführt haben«, sind »nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen«. Das heißt, sie werden in Konzentrationslager gebracht. Wegen Homosexualität eingewiesene Männer müssen dort als Kennzeichen zumeist den »rosa Winkel« tragen.

Rosa-Winkel-Häftlinge sind nachgewiesen in den Konzentrationslagern Auschwitz, Bergen-Belsen, Berlin/Columbiahaus, Buchenwald, Dachau, Emslandlager, Flossenbürg, Groß Rosen, Lichtenburg, Majdanek, Mauthausen, Mittelbau-Dora, Natzweiler, Neuengamme, Ravensbrück (Männer-Lager), Sachsenhausen und Stutthof. Nur eine Minderheit von ihnen überlebt den Terror der Lager
23. September 1940 Aufhebung der Vorbeugehaft möglich nach »freiwilliger« Kastration
15. November 1941 Im »Erlass des Führers zur Reinhaltung von SS und Polizei« ordnet Hitler die Todesstrafe für homosexuelle Betätigung durch Angehörige von SS und Polizei an
19. Mai 1943 Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Keitel, erlässt »Richtlinien für die Behandlung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht«. In »besonders schweren Fällen« soll die Todesstrafe verhängt werden
Mai 1943 Gesetz über Gemeinschaftsfremde: Kastration kann für Verurteilungen im Rahmen der
§§ 175/175a nun vom Richter und ohne ärztliches Gutachten angeordnet werden. Das Gesetz tritt allerdings nicht mehr in Kraft
1944 Der dänische SS-Arzt Carl Vaernet führt im Konzentrationslager Buchenwald medizinische Experimente an Homosexuellen durch. Mit der Implantation künstlicher Hormondrüsen in der Leistengegend will er Homosexualität »heilen«
Bundesrepublik Deutschland / DDR
8. Mai 1945 Kriegsende. Befreiung der Konzentrationslager. Anders als andere Nazi-Gesetze heben die Alliierten die Verschärfung des § 175 nicht auf. Befreite Homosexuelle werden mitunter zur Verbüßung ihrer Reststrafe in den normalen Vollzug überstellt. Der § 175 bleibt in der Bundesrepublik in der drastisch verschärften Nazi-Fassung bis 1969 in Kraft
21. Februar 1950 Die DDR kehrt zur »milderen« Fassung des § 175 aus der Weimarer Republik zurück, der
§ 175a bleibt in seiner Fassung der Nazi-Zeit bestehen
Juli 1950 In Frankfurt am Main wird die erste »Aktion gegen Homosexuelle« in der BRD eingeleitet
29. Juni 1956 Das Bundesentschädigungsgesetz für Opfer des Nationalsozialismus wird verkündet. Verfolgung aufgrund der Homosexualität wird nicht als typisches NS-Unrecht anerkannt
10. Mai 1957 Das Bundesverfassungsgericht stuft den § 175 in der Fassung von 1935 als »ordnungsgemäß zustandegekommen« ein. Er sei nicht »in dem Maße nationalsozialistisch geprägtes Recht«, dass ihm »in einem freiheitlich demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse«. Die Verfassungsrichter urteilen: »Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.«
4. Oktober 1962 Reform des Strafgesetzbuches in der BRD, ausgenommen davon ist der § 175; Begründung: »Die Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens ist eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für den Bestand des Volkes... «
1. Juli 1968 Im Rahmen der Strafrechtsreform der DDR wird der § 175 ganz gestrichen. Dabei legt man im § 151 für homosexuelle Kontakte von Frauen und Männern eine Schutzaltersgrenze von 18 Jahren fest. 1989, kurz vor dem Ende der DDR, wird diese Grenze auf 16 Jahre herabgesetzt und an diejenige für heterosexuelle Kontakte angeglichen
1. September 1969 In der Bundesrepublik tritt die erste Reform des § 175 StGB in Kraft. Homosexualität unter Erwachsenen wird straffrei
11. März 1994 Im Rahmen der rechtlichen Angleichung im vereinten Deutschland wird der § 175 aufgehoben und endgültig aus dem Gesetzbuch gestrichen
   

Verfolgung lesbischer Frauen

Frauensexualität wurde in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein nur im Zusammenhang mit Männersexualität definiert. Da Homosexualität bei Frauen aber nicht als staatsgefährdend eingestuft wurde, sondern »lediglich« ein Ausfall als Gebärende vorlag, wurden Frauen nicht im Zusammenhang des § 175 verfolgt.

In der NS-Zeit wurde der Vorwurf von Wehrkraftzersetzung, angeblicher Asozialität und Kriminalität benutzt, um lesbische Frauen zu verfolgen und zu internieren. Im Konzentrationslager Bützow entsteht ein eigener »Lesben-Block«. Im Frauen-KZ Ravensbrück werden sie durch einen »rosa Winkel« mit den Buchstaben »LL« für lesbische Liebe gekennzeichnet. Zu ihrer Erniedrigung in den Lagern gehören u.a. systematische Vergewaltigungen durch zwangsweise angeordnete Prostitution.

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